"... doch nicht für immer". Gefördert durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung.
Ursendung: 13. Mai 2012, 14.05, SWR2 Feature am Sonntag. Radio Riga (lettische Fassung): 14. Juni 2012



HEIMAT

Im Deutschen kann man das Wort Heimat nicht in den Plural setzen. Heimate, Heimatländer: ich hatte jedenfalls von Anfang an drei davon, zwei imaginäre und ein gelebtes, das sich durchaus echt anfühlte.

Meine Eltern haben sich nach dem 2.WK in Deutschland kennen gelernt, mein Vater kam aus Estland, meine Mutter aus Lettland. Und da mein Vater in meiner frühen Kindheit oft abwesend sein musste, wuchs ich automatisch mit der Muttersprache auf. Und zwar in Ludwigsfeld, einem schon immer vergessenen Stadtteil von München, weit ab vom Zentrum und immer noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln am schlechtesten zu erreichen. Dafür lag meine Volksschule zwischen Äckern und Feldern, und der Wald war nah.

Hier lebten nur Menschen, die ein gemeinsames Schicksal verband: die Flucht. Ins Exil getrieben durch den großen Krieg, aus den Ländern, die jetzt die Sowjetunion vergrößerten oder unter ihren Einfluss gerieten, im Auftakt des kalten Krieges. Mehr als 20 Nationen waren in Ludwigsfeld vertreten, und sind es noch heute. Ob Letten, Esten, Litauer, Tschechen, Polen, Ukrainer, Weißrussen, Rumänen, Ungarn oder Kalmücken und Kasachen, sie alle fanden hier eine neue Bleibe, viele von ihnen vielleicht sogar so etwas wie eine zweite Heimat.

Und als zweisprachiges Kind zweifelhafter Herkunft war man dort auch nichts besonderes, jedes Kind sprach neben Deutsch ganz selbstverständlich noch mindestens eine zweite Sprache. Erst sehr viel später fand ich heraus, dass die Lage draußen am Ende der Dachauer Straße in München kein Zufall war. Die Siedlung Ludwigsfeld, wurde auf einem früheren Außenlager des KZ Dachau angelegt, ganz in der Nähe der Fabriken von BMW und MAN. Die gab es später auch noch, weswegen wir mit den ersten italienischen Gastarbeitern in den 1960er Jahren neue Nachbarn bekamen.

Geplant wurde Ludwigsfeld 1953 als Mustersiedlung für Dps, Displaced Persons. Das waren im Jargon der Flüchtlingsbehörden der Vor-UN-Zeit Heimatvertriebene nicht-Deutscher Herkunft oder kurz Heimatlose Ausländer. D.h. Menschen, deren Staaten nicht mehr existierten, deren Annektierung und neuer faktischer Status als Teil der Sowjetunion zumindest von den Westmächten nicht anerkannt wurde, oder die nicht ohne Lebensgefahr zurückkehren konnten.

Für mich war es also das Natürlichste auf der Welt, inmitten einer bunten Völkerschar aufzuwachsen, die auf das Friedlichste zusammen lebte. Die lokale Polizeistation wurde irgendwann mangels Bedarf geschlossen und nie mehr vermisst. Dass meine Eltern sich auf Deutsch unterhalten mussten, weil ihre eigenen Sprachen, Lettisch und Estnisch, ungefähr soviel miteinander zu tun haben wie, nun ja, z.B. Deutsch und Arabisch, das war einfach so. Und dass es da etwa auch Unterschiede geben könnte, bedingt durch Herkunft, Mentalität oder sonst etwas, das wäre mir damals gar nicht in den Sinn gekommen.

Die große Flucht hat die unterschiedlichsten Menschen an diesem Ort zusammengewürfelt hatte, das gemeinsame Schicksal hatte diese friedfertige Gemeinsamkeit hervorgebracht und all die Unterschiede bedeutungslos gemacht. Obwohl diese Geschichten von Flucht und Vertreibung, von Krieg und Heimatverlust so eine unmittelbare, ja körperliche Präsenz hatten, waren sie für das tägliche Leben nicht bestimmend. Natürlich hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen, seelische wie physische. Meine Eltern litten an den Folgen von Tuberkulose und hatten sich im Lungensanatorium kennen gelernt, auch so einer DP, displaced persons Einrichtung, in Gauting bei Starnberg. Und Vater war sowieso schwerkriegsbeschädigt, was man ihm aber nicht ansah und ihn auch nicht daran hinderte, mit kleinen Schwarzarbeiten die schwache Rente aufzubessern.

Wir Kinder empfanden es als normal, dass neben der Heimat, in der wir lebten, es auch noch andere Orte gab, Orte der Sehnsucht wie Unerreichbarkeit. Heimate oder Heimatländer, Heimatorte eben, die nur in der Imagination entstanden und uns begleiteten, unterstützt durch regen Briefkontakt mit zurückgebliebenen Verwandten und Freunden. Mein Vater hatte keine Verwandten mehr, die Suche nach seinem im Krieg verschollenen Bruder bleib erfolglos. So lernte ich nur meine lettischen Großeltern kennen, auf Fotografien, und durch viele Postkarten.

Als ich in den 1980ern den Wehrdienst verweigerte, war das damals noch ein umständlicher Vorgang, der wohl begründet sein wollte. Damals begab ich mich zum ersten Mal auf Spurensuche und fragte meine Eltern nach ihren Geschichten von Krieg und Vertreibung. Es fiel ihnen schwer, darüber zu sprechen.

Damals sah ich zum ersten Mal die Blätter, die meine Mutter während ihrer Flucht 1944 zu einem Tagebuch genutzt hatte, Papiere unterschiedlichster Formate, beschrieben mit Bleistift, roter, schwarzer oder grüner Tinte. Die kleine und schnelle Schrift war selbst für sie nicht mehr leicht zu entziffern, aber sie versuchte mir etwas davon auf einen Kassettenrekorder zu sprechen.

Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, und nun befinden sich diese Aufzeichnungen in meinem Besitz, zusammen mit zahlreichen Dokumenten, die ihre Flucht aus Riga, kreuz und quer durch Lettland über das heutige Polen nach Österreich und Deutschland dokumentieren, Lebensmittelkarten, Marschbefehle, Telegramme.

Jetzt wollte ich ihre Reise nicht nur im Tagebuch und auf der Landkarte nachvollziehen, sondern real, im heutigen, freien Lettland. Ohne Erwartungen und auch ohne so richtig zu wissen, worauf ich mich hier einlasse.


Meine Mutter mit ihren Eltern und ihrer Schwester
am Strand von Jurmala, ca. 1932

 

Im DP Lungensanatorium Gauting bei München, 1950

 

Die Siedlung Ludwigsfeld, kurz nach Fertigstellung 1954

 

Blick aus unserer Wohnung Richtung München