"... doch nicht für immer". Gefördert durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung.
Ursendung: 13. Mai 2012, 14.05, SWR2 Feature am Sonntag. Radio Riga (lettische Fassung): 14. Juni 2012



1944, 29 SEPTEMBER, FREITAG, 8 UHR 45

Morgenstunde in Litauen – wahrscheinlich bin ich überhaupt das erste mal im Ausland. Hier ist das Grenzstädtchen Skuodas. Diese Reise ist halbwegs unbeschreibbar, jedenfalls fallen mir die Schilderungen sehr schwer. Aber schlussendlich müsste man ja an das alles erinnern.

Gerade hält auf dem Nebengleis ein Verwundeten-transport. Beinahe hätte man uns gestern nach Deutschland verbracht, nach Krottingen. Das war eine besondere Aufregung.

Ich habe mir inzwischen eine kaum zu glaubende Ruhe erworben, Gott hat geholfen. Es scheint, als ob diese Fahrt doch notwendig war, vielleicht, um einfach bewusster zu werden.

Gestern fuhren an Airiite, Skrunda, Sieksaate, Paplaka und anderen Orten vorbei. Wir fühlen uns alle drei vollkommen frei. Dass wir uns nicht richtig waschen können, der Mangel an Lebensmitteln, auch dass die Kleider ständig in Mitleidenschaft gezogen werden, all das zieht dann doch vieles ins Negative. Aber immer ist das alles etwas Neues und es ist eben auch interessant ...

In Tukums standen wir dann auch zwei Tage, und am dritten haben wir uns gegen halb sechs Uhr abends wieder fortbewegt. Wir mussten ein gefährliches Kriegsgebiet durchqueren, die Gleise waren gerade frisch verlegt und angsteinflößend wacklig. Wir fuhren durch die Nacht und sahen den Widerschein von Explosionen an der Front...

Besonders großartig ist es, am Abend in der Halbdämmerung, der Blauen Stunde, zu sitzen und den vorbei gleitenden Feldern nach zu blicken – dann fühlt man sich mit allem eins.