Presse Archiv : DIE ZEIT, 21. 6. 2007

Hier spricht der Gletscher
Unter 0043 52 54 30089 rauscht der Vernagtferner. Ein Kunstprojekt verschafft dem Klimawandel Gehör
Von Iris Rodriguez

Der Künstler Kalle Laar nimmt an der Forschungsstation Vernagtbach in den Ötztaler Alpen das Rauschen des Schmelzwassers auf
© Mila Pavan


Die Telefonleitung ist frei. Eine sonore Stimme vom Band meldet sich und kündigt an, dass man »direkt und in Echtzeit« mit einem Gletscher verbunden werde. Und dann: ein gewaltiges Rauschen, ein bisschen wie bei einem Radio, das kein Programm findet und auf volle Lautstärke gestellt ist. Doch das, was man da hört, ist der Vernagtferner, ein Gletscher im Ötztal. In Echtzeit wird der Klang übertragen, den das eisige Schmelzwasser des Gletschers verursacht, wenn es als reißender Bach den Berg herabstürzt.

Zum ersten Mal kann man von überall her in der Welt mit einem Gletscher telefonieren. »Mobile Elegy – calling a glacier« nennt der Klangkünstler Kalle Laar aus München sein Projekt, das er Anfang Juni während der Eröffnungstage der 52. Biennale in Venedig der Kunstwelt präsentierte.

Auf fast 3000 Meter Höhe fängt ein Mikrofon in den Tiroler Alpen den Klimawandel in Ton und Klang ein und macht ihn als akustisches Spektakel für ein Jahr am Telefon erlebbar. Mit der Jahreszeit wechselt das Programm. Jetzt – nachdem es bereits im April und Mai viele heiße Tage gegeben hat –, ist ein ohrenbetäubendes Rauschen zu hören, im Winter wird es ein leises Tropfen sein, im Frühling ein fröhliches Gluckern.

»Als ich den Gletscher besucht habe, wurde mir klar, dass er ein Lebewesen ist, das wirklich stirbt. Er kommt nie mehr wieder«, sagt der Künstler. Kalle Laar, 52, halb Este, halb Lette, hat schon Anfang der neunziger Jahre als Musiker und DJ mit Klängen experimentiert und improvisiert. »Der Klang hat eine enorme emotionale Kraft, die den Menschen ganz unmittelbar trifft.« Das Rauschen des Gletschers bringe den Zuhörer direkt an den Ort des Geschehens tief in den Alpen. Was leicht als engagiertes Umweltprojekt missverstanden werden kann, ist der künstlerische Versuch, über den Klang ein Gefühl für etwas zu geben, das weit weg passiert und doch alle angeht.

Entstanden ist die Idee zu Mobile Elegy im Rahmen der Expedition Overtures, eines interdisziplinären und internationalen Kunstprojektes von artcircolo München. Gemeinsam mit anderen Künstlern und mit Kuratoren reist Kalle Laar zu Orten auf der Welt, an denen das Element Wasser eine herausragende Rolle spielt. Im Austausch mit Wissenschaftlern und Technologen führt die Expedition von Nord nach Süd, über Island, Venedig, die Alpen, die Türkei bis nach Spanien. Auf welche Ideen die Künstler dabei kommen und wie sie sie umsetzen, wird in einer Kunstausstellung zur Expo 2008 nahe Saragossa zu sehen sein.
Noch ist Kalle Laars Arbeit nicht fertig. Deshalb macht sich der Mann mit dem feinen Gehör gleich nach den Eröffnungstagen der Biennale von Venedig aus erneut auf den Weg in die Hochalpen: Er will dem Gletscher weitere Stimmen entlocken, seine Elegie noch eindringlicher gestalten. Laars letzte Reise zum Gletscher liegt drei Monate zurück, und er ist gespannt, wie sich der Berg verändert hat.

Der Bus verlässt Venedig, das bereits jetzt mit dem Anstieg des Meeresspiegels zu kämpfen hat, in Richtung Ötztal. Über Verona, Bozen, Innsbruck und Sölden geht es auf 1900 Meter Höhe in das Bergsteigerdorf Vent. Schon im 19. Jahrhundert hat Pfarrer Franz Senn die Anziehungskraft der Gletscher erkannt und in seinem Pfarrhaus Gästezimmer eingerichtet. Später war er Mitbegründer des Deutschen Alpenvereins. Im Hotel Post trifft die Overtures-Gruppe, die Kalle Laar begleitet, auf den Glaziologen Ludwig Braun von der Kommission für Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und den Hydrogeologen und Geomesstechniker Matthias Siebers. Unter der Leitung eines erfahrenen Alpenführers machen sie sich alle zusammen am nächsten Morgen auf zum Gletscher.

Erstes Etappenziel: die Pegelstation der Glaziologen. 750 Höhenmeter in weniger als vier Stunden scheinen allen eine ziemliche Herausforderung zu sein. Doch der Blick auf die umliegenden Dreitausender motiviert. Die Geologen machen immer wieder auf Spuren der Eiszeit aufmerksam. Manchmal ragen rötlich-braune terrassenförmige Felsplatten bis an den schmalen Pfad heran, die von Gletschern der Eiszeit vollkommen glatt gehobelt wurden. Oberhalb der Baumgrenze wird die Luft dünner, aber alle halten mit, sogar der Kurator aus Thailand, der für seine erste Alpenwanderung überraschend professionell ausgestattet ist.
Für den Kurator aus Thailand ist es die erste Alpenwanderung

Das helle Klicken der leichtmetallenen Wanderstöcke gibt den Takt vor, bis etwa 500 Meter vor der Messstation der Pfad auf einmal endet. Stattdessen kraxeln wir nun über ein großes, karges Geröllfeld weiter bergauf, jeder Schritt ein Balanceakt auf den mal eckigen, mal runden Steinen. Nur unser Wanderführer nimmt die Steigung mit solcher Leichtfüßigkeit, dass man vermuten könnte, er habe einen Heißluftballon in seinem Rucksack.

Die 1973 erbaute Station schmiegt sich unauffällig in die bräunliche Umgebung der Moräne. Auf den ersten Blick kaum zu glauben, dass sich hier eine der weltweit führenden Forschungseinrichtungen für langfristige Gletscherbeobachtung versteckt. Die Antennen und Empfangsschirme auf dem Geröll lassen an eine Mondstation denken. Hochsensible Geräte messen kontinuierlich Luftdruck, Temperatur, Feuchte, Windgeschwindigkeit, Niederschlag, Sonneneinstrahlung und – Herzstück der Station – den Wasserdurchlauf. Täglich werden die Werte per SMS nach München in die Kommission der Gletscherforscher übermittelt.

Die hochalpine Einsamkeit ist der zeitweilige Arbeitsplatz von Matthias Siebers, er hat die Station 2001 mit modernster Technik neu bestückt. Im Schnitt kommt Siebers von April bis November alle vier Wochen für zwei bis drei Tage auf den Berg, um zu sehen, ob alles gut läuft. »Man kann den Messgeräten auf Dauer nicht trauen, sondern muss sie regelmäßig kontrollieren«, sagt er. Und dann legt er – ziemlich untechnologisch – einen Temperaturfühler ins Eisbad, um zu schauen, ob er auch wirklich genau null Grad anzeigt.

Weiter oben am Berg sind außerdem zwei Kameras aufgestellt, die das gar nicht mehr so ewige Eis täglich fotografieren. Da die Kameras noch nicht digital arbeiten, müssen Siebers und seine Kollegen dafür sorgen, dass stets genügend Filmmaterial vorhanden ist. Es sind vor allem diese Aufnahmen, die – in Vergleich gesetzt zu alten Aufnahmen und Karten – das Schrumpfen der Gletscher besonders deutlich aufzeigen. Der Vernagtferner wird bereits seit über 400 Jahren beobachtet, die erste genaue Kartierung stammt aus dem Jahr 1889.

Als Kalle Laar auf die kleine Holzbrücke neben der Station tritt, ist er ziemlich überrascht, dass aus dem leise plätschernden Rinnsal unter der Schneedecke ein reißender, fast zwei Meter breiter Bach geworden ist. In einem Hohlraum unter der Brücke hatte er bei seinem Aufstieg im März das Mikrofon installiert. Pro Sekunde stürzen 2000 Liter gräulich-milchiges Gletscherwasser vorbei. Im Hochsommer werden es bis zu 14.000 Liter sein. Die Schneeschmelze ist auch in den hohen Regionen in diesem Jahr überraschend früh eingetreten. Schnee reflektiert bis zu 90 Prozent des einfallenden Sonnenlichts und schützt so den Gletscher. Fehlt der Schnee, nimmt die schmutzige bläuliche Gletschermasse die Sonnenenergie fast vollständig auf, und es geht der riesigen Kreatur aus Eis so wie uns Menschen: Sie schwitzt – und verliert Flüssigkeit.

Wenn es in der Leitung kracht, hat sich der Vernagtferner bewegt

Das nächste Mikrofon will der Soundkünstler 350 Meter weiter oben direkt im Gletscher aufbauen. Wenn es gelingt, kann der Anrufer mit etwas Glück nicht nur hören, wie das Gletscherwasser rauscht, sondern auch, wie sich die Eismassen bewegen. Dann ächzt und kracht der Gletscher, bekommt neue Spalten und Risse, schiebt sich vorwärts und zermalmt dabei jeden Widerstand.

Ein polternder Gletscher am Telefon – was für eine tolle Vorstellung.

»Das ist nur ein sehr kurzes Krachen«, schmälert der Glaziologe Ludwig Braun die Erwartungen. »Wir haben es hier mit einem sterbenden Wesen zu tun, das sich nur noch wenige Meter im Jahr bewegt, weil durch den weniger werdenden Schnee nicht mehr genug Masse nachrückt.« Und dann erzählt der Wissenschaftler mit dem Schweizer Akzent vom dramatischen Schrumpfen des Vernagtferners, von den ehemals 900 Millionen Tonnen im Jahr 1850 und den noch übrig gebliebenen 250 Millionen, von den zu vielen warmen Tagen und der fast doppelt so langen Zeit der Schneeschmelze. »Wir leben in einem großen Experiment, das die Menschheit durch die Klimagase angestoßen hat«, ruft Ludwig Braun, während er zwischen den Messgeräten der Station hin und her springt. »Und wir sind die Beobachter dieses Experiments«, eine Rolle, die er unübersehbar mit Leidenschaft ausfüllt.

Zwar kenne niemand den Ausgang dieses Experimentes, fährt Braun fort, aber eines sei heute schon klar: »Die Klimaforscher sind in ihren Vorhersagen viel zu konservativ.« Die Forschungen am Vernagtferner zeigten, dass die Gletscherschmelze deutlich schneller voranschreite als angenommen. Werden die Sommer in Zukunft so heiß wie die vergangenen Hitzesommer, dann gebe es den Vernagtferner in 80 bis 100 Jahren nicht mehr.

Mit dem neu erworbenen glaziologischen Wissen marschieren wir schließlich auf der Seitenmoräne zum Gletscher. Oben ist es frischer, weil von der Bergspitze ein kalter Wind den Gletscher herabfällt. Große Flächen sind jedoch bereits schneefrei; und anders als erwartet, ist es hier keineswegs still. Der rechte Ort für einen Klangkünstler: Bei jedem Schritt knirscht das Eis unter den Schuhen, überall gluckert es, das Schmelzwasser sammelt sich in Rinnsalen, die zu Bächen zusammenfließen und kleine Canyons ins Eis gegraben haben. An manchen Stellen werden die Bäche breiter, und das Wasser verschwindet in turbulenter Drehung in den sogenannten Mühlen, um durch Tunnel und Hohlräume herabzustürzen und viel weiter unten durch das Gletschertor wieder herauszuströmen. Langsam und lauschend schreitet Kalle Laar übers Eis, auf der Suche nach der geeigneten Stelle für sein Mikrofon.

Doch plötzlich ist eine schnelle Entscheidung gefragt, das Wetter verschlechtert sich, und es wäre für alle Beteiligten ohne Steigeisen auf einem Gletscher im Regen viel zu gefährlich. Kalle Laar wählt eine Stelle nahe dem Gletschertor. Wenn er in ein paar Wochen zurückkehrt, wird er dort mit Matthias Siebers einen Koffer installieren, ausgestattet mit sensibler Elektronik und einer Übertragungseinheit. Geschützt vor Windgeräuschen und dem Wetter, bestückt mit Solar- oder Brennstoffzellen und fixiert in einer Konstruktion aus Metallstangen, damit er bei schmelzender Oberfläche nicht rutscht. Dann braucht er noch eine Richtantenne für eine gute Übertragungsqualität, weil die Mobilfunk-Basisstation zehn Kilometer entfernt hinter einem Berg liegt. Außerdem muss der Ton des Gletschers digital kodiert werden, weil das Mobilfunknetz Rauschen herausfiltert. Aber es hat ja niemand gesagt, dass es leicht ist, einem Gletscher Gehör zu verschaffen.

Information:
Den Gletscher hört man unter Tel. 0043 52 54 30089. Die Pegelstation ist auf einem Wanderweg von Vent aus zu erreichen. Bergführer für Gletschertouren zum Vernagtferner vermittelt das Bergsteigerbüro Vent (Tel. 0043-5354/8106), ein Tag mit dem Bergführer kostet 230 Euro für eine oder zwei Personen. 


Weitere Informationen
zum Projekt: www.callingtheglacier.org
zur Expedition Overtures: www.overtures.de
zum Gletscher: www.glaziologie.de
zu Vent: Tourismusverband, Tel. 0043-5254/8193, www.vent.at


zur Webseite des Künstlers Kalle Laar: www.soundmuseum.com